Mittwoch, 30. März 2011

Kummt net, kummt net


Die Nachricht einer unmittelbar bevorstehenden Verstaatlichung der Tokyo Electric Power Co. (Tepco), der Betreibergesellschaft der Schrottreaktoren von Fukushima, hat deren Aktienkurs Anfang der Woche in ungeahnte Tiefen gedrückt. Die Papiere wurden schließlich vom Handel ausgesetzt. Der aktuelle Börsenwert liegt bei etwa einem Drittel der Marktkapitalisierung vor dem Erdbeben vom 11. März.

Dabei handelte es sich bei der Meldung nur um einen Versuchsballon. Es sei eine Option, die man angesichts der zu erwartenden Entschädigungsforderungen der von der Atomkatastrophe betroffenen Haushalte und Betriebe erwäge, sagte der für dies und das zuständige Staatsminister Koichiro Gemba. Eine Option wie die, die Reaktorblöcke in Kunstharz einzugießen oder mit einem nicht näher bezeichneten Spezialgewebe abzudichten, um das weitere Austreten von Radioaktivität zu unterbinden? Davor hatte man von dem Demokraten aus der Präfektur Fukushima, zu dessen Aufgabenbereich so wolkige Themen wie "Neues Gemeinwesen", "Nationale Strategie" und die Weltraumpolitik gehören, nicht viel gehört.

Chefkabinettssekretär Yukio Edano dementierte umgehend einen Bericht der Yomiuri Shinbun, in dem unter Berufung auf Regierungsquellen behauptet wurde, der Staat könnte einen Mehrheitsanteil am viertgrößten Stromversorger der Welt erwerben. Aktionäre und Anleihengläubiger fürchten, dass es zu einem Insolvenzverfahren kommt wie bei der Fluggesellschaft Japan Airlines. Für den Steuerzahler wäre das auf den ersten Blick die beste Lösung. Allerdings gehören auch öffentliche Körperschaften wie die Stadtverwaltung von Tokio zu den Aktionären, die dann viel Geld verlieren würden. Der Pensionsfonds der japanischen Regierung ist stark in die Schuldentitel des Betreibers von 17 Atomreaktoren investiert. Und den Opfern wäre mit einem Konkurs auch nicht gedient.

Daneben stellt sich die Frage, ob die Banken und Versicherer wie Dai-Ichi Life oder Mizuho, die unter den Großaktionären und Gläubigern des Stromversorgers der Hauptstadtregion reichlich zu finden sind, so einfach aus der Verantwortung entlassen werden sollten. Jahrzehntelang stand Tepco für sichere Dividenden und Kupons in lukrativer Höhe. Das war nur möglich, weil an der Sicherheit gespart wurde.

Noch ist völlig unklar, wie hoch die Schäden durch die Havarie ausfallen werden. Entsprechend verfrüht sind Spekulationen über ein staatliches Eingreifen. Anders als bei Japan Airlines haben bei Tepco allerdings viele mächtige Akteure der Japan AG ihr Geld im Feuer. Tiefgreifende Änderungen sind da wohl kaum zu erwarten, Staatshilfen schon eher.

Dienstag, 29. März 2011

3/19


Wenn man jeden Tag am Fernbahnhof von Osaka vorbei muss, fällt einem schon auf, dass in den letzten Tagen wesentlich mehr Menschen mit schwerem Gepäck, kleinen Kindern oder nicht-japanischen Ehepartnern ankommen. Viele sind ganz offenkundig das erste Mal in ihrem Leben in Osaka.

Die ganze Woche über sind Leute auf Zimmersuche in mein Hotel gekommen, morgens um halb acht ebenso wie nach Mitternacht, immer mit reichlich Gepäck im Schlepptau. Leider ausgebucht. Man kann zwar nicht behaupten, dass eine Fluchtwelle aus dem Großraum Tokio angerollt kommt, aber es sind reichlich Leute unterwegs. Meine Freunde aus Yokohama haben mir von einem Besuch bei ihnen abgeraten. Man wisse nicht, wie lange es noch Strom und Wasser geben wird. Die Tochter meiner Homestay-Gastfamilie wohnt vorübergehend wieder bei ihren Eltern in der Kansai-Region. Die Schwägerin meines Kollegen hat sich übergangsweise bei ihm eingenistet.

Noch kann von Hamsterkäufen nicht die Rede sein. Aber im Seven-Eleven um die Ecke ist das billigste Mineralwasser schon ausverkauft. Im nahe gelegenen Supermarkt hängt seit Tagen ein Schild mit der Aufforderung, nicht gleich palettenweise Wasser zu kaufen.

Schade, dass ich Japan schon wieder verlassen muss. Am Flughafen ist von den langen Schlangen der Ausreisewilligen, von denen immer wieder die Rede ist, nichts zu sehen. Die einzige Schlange bildet sich, weil das Handgepäck noch penibler kontrolliert wird als anderenorts. Auch das lächerliche Mitnahmeverbot für Flüssigkeiten wird hier streng beachtet. Gleich hinter der Kontrolle kann man sich am Getränkeautomaten oder am Kiosk wieder eindecken, aber Hauptsache die Richtlinien werden eingehalten. Das bekommen auch die Mitarbeiter des italienischen Zivilschutzes zu spüren, die ganz offensichtlich als Erdbebenhelfer im Land waren. Ihr Gepäck wird ganz genau unter die Lupe genommen. Japan sagt Dankeschön.

Montag, 28. März 2011

3/11


Über dem großen Torii des Yasukuni-Schreins ziehen sich dunkle Wolken zusammen. Es ist reiner Zufall, dass sich zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort bin. Mir war in der U-Bahn eingefallen, dass ich meine Interview-Anfrage eigentlich nicht unbedingt per Fax schicken muss, sondern auch direkt vorbringen kann. Und so kommt es, dass ich gerade durch das Tor geschritten bin, als das Erdbeben Tokio erreicht. Die großen Steinlaternen im Eingangsbereich wackeln bedenklich. Eine Reisegruppe geht vor mir in die Knie. Es ist ein unwirkliches Gefühl, als stünde man auf der fest gewordenen Haut eines Puddings. Alles schwankt.

Langsam füllt sich der Platz vor dem Schrein mit den Menschen aus den umliegenden Bürogebäuden. Ich hatte das große Glück, das Beben an einem der Orte mitzuerleben, die für solche Fälle als Sammelplätze vorgesehen sind. Noch weiß niemand, um was für eine Katastrophe es sich handelt. Über Lautsprecher wird durchgesagt, dass ein im Nordosten ein schweres Beben gegeben hat. Ich frage mich zur Schreinverwaltung durch. Sendai sei am schwersten getroffen worden, heißt es dort. Und Interviews gebe man aus Prinzip nicht, schon gar nicht zum Wesen des Japanertums. Die Erde schwankt schon wieder. Ab jetzt reißen die Nachbeben nicht mehr ab.

U-Bahn und die innerstädtischen Bahnlinien haben den Betrieb eingestellt. Eigentlich wollte ich heute nach Osaka weiterreisen. Aus dem Hotel habe ich bereits ausgecheckt. Das Gepäck ist am Bahnhof Tokio eingeschlossen. Außerdem muss ich noch Wäsche aus der Reinigung in Takadanobaba abholen. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg, wie tausende andere Menschen auch. Die Stadtautobahn ist geschlossen, nur Busse fahren noch. Es bilden sich lange Schlangen an den Haltestellen, an Taxiständen und vor öffentlichen Telefonzellen. Das Mobilfunknetz ist zusammengebrochen. "Erst Neuseeland, jetzt Japan", unkt ein älterer Herr, den ich unterwegs nach dem Weg frage. Um jedes Fernsehgerät bilden sich Menschentrauben. Man sieht brennende Städte.


Es dauert ungefähr zwei Stunden, bis ich meine Wäsche in Empfang nehmen kann. Schön, wenn man sich in so einer Situation noch an etwas festhalten kann. In der Lobby des Hotel, in dem ich bisher übernachtet hatte, wärmen sich dutzende Menschen. Es ist kalt draußen, es wird dunkel und kein Zimmer ist mehr zu haben. Am Bahnhof Takadanobaba hoffen immer noch Hunderte darauf, dass die Yamanote-Linie wieder den Betrieb aufnimmt. Im Verlauf des Nachmittags hatte es einmal geheißen, ab 18 Uhr könnten wieder Züge fahren. Schließlich räumt die Polizei den Bahnhof. Die Rolläden werden heruntergelassen. Niemand weiß, wie es weitergehen soll. Der Shinkansen fährt auch nicht mehr.


Vermutlich sind alle Hotels ausgebucht. Der Nachbarschaftsbeamte der kleinen Polizeistation am Bahnhof hat auch keine Idee. In Shinjuku gäbe es aber mehr Hotels und damit mehr Chancen, die Nacht nicht im Freien verbringen zu müssen. Richtig, zumindest in einem der zahllosen Love Hotels müsste noch etwa zu haben sein. Es wird eng auf den Fußgängerwegen. Zehntausende haben sich auf den Weg nach Hause gemacht - oft quer durch die Millionenstadt. In vielen Convenience Stores sind Sandwiches und andere zubereitete Speisen bereits ausverkauft. Gegen halb acht komme ich in Shinjuku an. Zwei Business Hotels auf dem Weg sind bereits ausgebucht. Für den Fall, dass jemand seine Buchung stornieren sollte, gibt es bereits lange Wartelisten.


"Love Hotels" werden nicht nur für Affären genutzt, sondern vor allem von japanischen Ehepaaren, die nicht wollen, dass ihnen Kinder, Eltern und Nachbarn beim Sex zuhören. Im zweiten Hotel sichere ich mir ein Zimmer für die ganze Nacht für 14000 Yen, angesichts meiner Notlage, der Größe und Ausstattung ein Spitzenangebot für Tokio. Passend zu den Kondomen mit Erdbeergeschmack gibt es Erdbeerschaumbad, ein Sprudelbad, einen übermannsgroßen Flachbildschirm mit Playstation und einen Verkaufsautomaten für Sexspielzeug.

In den Lawson- und FamilyMart-Läden der Umgebung ist nahezu alles ausverkauft, was direkt verzehrt werden kann. Vor Telefonyellen und Internet-Cafes bilden sich endlose Schlangen. In vielen Gebäuden haben nur die Geschäfte, Kneipen und Restaurants geöffnet, die ebenerdig oder im ersten Stock liegen. Der Rest hat aus Sicherheitsgründen geschlossen. Keine Chance, meine Familie zu benachrichtigen. Ich kaufe ein paar Flaschen Wasser. Sicher ist sicher. Beim Abendessen im Nudelsuppenrestaurant kommt man ausnahmsweise schnell ins Gespräch. Die sonst so zurückhaltenden Hauptstädter müssen Dampf ablassen. "Ich dachte, ich werde heute sterben", sagt ein junger Mann. So etwas habe er noch nicht erlebt, pflichtet ihm ein älterer Herr bei.

NHK sendet Erdbebenwarnungen am laufenden Band. Manche Moderatoren tragen Helm im Studio, der Dramatik halber. Im Erdbeer-Sprudelbad verschüttet zu werden, hat seinen morbiden Reiz. Irgendwann schlafe ich doch ein, die Nachbeben schaukeln mich durch die Nacht. Morgens kündigt JR East an, die Yamanote-Linie werde gegen acht Uhr wieder den Betrieb aufnehmen. Gegen zehn bewegt sich immer noch nicht viel. Auf der Ringlinie stauen sich die Züge. Ich steige in Yoyogi in die Chuo-Linie um und erreiche schließlich den Bahnhof von Tokio. Mein Gepäck ist noch da. Allerdings muss ich erst zur Bahnhofsaufsicht, um es auszulösen. Den Gepäckschalter hatte man angesichts des allgemeinen Chaos gar nicht erst geöffnet. Überall bilden sich lange Schlangen. Viele Rolltreppen dürfen nicht benutzt werden. Richtung Norden geht nichts mehr. Gegen Mittag sitze ich im Shinkansen nach Osaka. Meine Reservierung im Toyoko Inn Shin Osaka wurde zwar storniert, nachdem ich nicht gekommen bin, lässt sich aber wieder herstellen. Es hat sich doch gelohnt, Japanisch zu lernen.